Es hätte der ganz große Durchbruch werden können. Amelie, klug, ehrgeizig, voller Visionen, stand kurz davor, ihre bahnbrechende Idee Realität werden zu lassen: eine App, die Dialekte und Umgangssprache fehlerfrei übersetzt – für alle, die zwischen Berliner Schnauze und Fachsprache verzweifeln. Doch ihr finales Testobjekt sollte ausgerechnet Piet sein – ein Mann, dessen Sprache chaotischer kaum sein könnte. Und genau damit begann der Absturz.
Die Herausforderung war klar: Wenn Amelies App selbst Piets Ausdrucksweise in verständliches Deutsch übersetzen kann, wäre das der ultimative Beweis für ihre Tauglichkeit. Doch statt Piet ehrlich einzuweihen, entschied sie sich für eine riskante Taktik: eine verdeckte Beobachtung, verpackt in eine charmante Lüge. Amelie gab vor, eine harmlose Doku über Kiez-Charaktere zu drehen – angeblich für ein Uni-Projekt. Piet fühlte sich geschmeichelt, plauderte drauflos, ahnte nichts von der wahren Absicht.
Mit jedem Spruch, jedem Fluch, jeder ungewöhnlichen Redewendung fütterte Amelie ihre App weiter. Ihr Laptop glühte, der Code tanzte. Für einen Moment glaubte sie, alles unter Kontrolle zu haben – bis das Kartenhaus einstürzte.
Piet, nicht auf den Kopf gefallen, bekam Wind davon, dass seine Stimme und Aussagen plötzlich im Hintergrund einer App-Demo auftauchten. Als er schließlich Amelies Tablet in die Finger bekam und den Prototypen mit seinem Gesicht und seinem Gekrächze sah, war die Fassade nicht mehr zu halten. Wütend, enttäuscht, zutiefst verletzt stellte er sie zur Rede – und verlangte eine Erklärung.
Der Moment war still. Amelie, sonst so redegewandt, stand sprachlos vor ihm. Der Bildschirm zeigte eine glatte, nüchterne Transkription seines chaotischen Slangs – als wäre seine Persönlichkeit auf ein paar Datenzeilen reduziert. Und genau das traf ihn am härtesten. Nicht die Lüge. Nicht die App. Sondern die Tatsache, dass sie ihn als Werkzeug gesehen hatte, nicht als Mensch.
Für Amelie war es ein Moment der Erkenntnis. Sie hatte sich verrannt, den Kontakt zur Realität verloren. Ihr Ziel, ihre Karriere, ihre Vision – sie hatte alles über echte Menschen gestellt. Über Gefühle. Über Vertrauen. Und genau das wurde ihr nun zum Verhängnis.
Am selben Abend saß sie allein in ihrer WG, das Laptop zugeklappt. Die App lief noch – ein letztes Mal. Sie sah sich die automatische Übersetzung eines Pietschen Satzes an. Technisch brillant. Emotional leer. In diesem Augenblick fiel ihre Entscheidung.
Sie wird das Projekt beenden.
Nicht, weil es nicht funktioniert. Sondern weil sie selbst nicht mehr dahinterstehen kann. Eine App, die Brücken bauen sollte, hatte Mauern errichtet. Zwischen ihr und Piet. Zwischen ihr und sich selbst. Es war kein Triumph mehr, sondern ein Verrat an dem, was sie ausmachen sollte: Neugier, Ehrlichkeit, Menschlichkeit.
Als sie am nächsten Morgen Piet auf dem Kiez wieder sieht, will sie sich entschuldigen. Doch der ignoriert sie. Noch. Vielleicht braucht es Zeit. Vielleicht braucht es mehr als Worte. Vielleicht braucht es Taten, die zeigen, dass sie verstanden hat.